Die Königin lebte sich schnell in ihrer römischen Umgebung ein. Die Strahlkraft des Namens ihres verstorbenen Gemahls öffnete ihr die Tore der Paläste der wichtigsten Persönlichkeiten in der Stadt. Sie verkehrte also in den Residenzen römischer und ausländischer Aristokraten und Diplomaten, der in der Ewigen Stadt allmächtigen Kardinäle und Damen von edlem Geblüt. Auch sie selbst organisierte Begegnungen in ihrer Residenz an der Piazza dei SS. Apostoli, die ihr zu Beginn ihres Aufenthalts von Fürst Livio Odescalchi zur Verfügung gestellt worden war. Mit geradezu gegenreformatorischem Eifer gab sie sich der Kontemplation in zahlreichen Gotteshäusern der Stadt, aber auch weltlichen Vergnügungen hin. Sie war sich der Kraft der Kunst im Dienste der Politik bewusst und bereitete mit großer Sorgfalt, nun schon im Palazzo Zuccari, ihrer festen Residenz seit 1702, Theatervorstellungen und Darbietungen von Gelegenheitswerken vor. Der Inhalt dieser Kompositionen konzentrierte sich hauptsächlich auf das Lob ihres Gemahls und der Familie Sobieski. Und obschon die Macht der Marie Casimire in der von Männern dominierten Welt sowohl der römischen als auch der europäischen Politik zu jener Zeit bereits begrenzt war, machte die Königin durch ihre Konsequenz und ihr Bedürfnis nach Teilhabe am öffentlichen Leben, ihre Liebe zu Glanz und Pracht, aber auch ihr Bedürfnis danach, bewundert zu werden, ihre Gegenwart in Rom deutlich.
Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass es keineswegs leicht war, die Aufmerksamkeit der Römer auf sich zu ziehen. Marie Casimire hatte im Bereich des Musik- und Theatermäzenatentums ernst zu nehmende Rivalen. Der wichtigste von ihnen, der ihr allerdings immer mit Rat und Tat zur Seite stand und sogar seine Künstler zur Verfügung stellte, war Kardinal Pietro Ottoboni. Ein anderer, nicht weniger wichtiger Konkurrent um Ruhm und Ehre war Francesco Maria Ruspoli, einer der reichsten Römer seiner Zeit, der wichtigste Protektor Georg Friedrich Händels und Antonio Caldaras. Daneben standen zum Wettkampf im Bereich der Kunst die kleineren und größeren Höfe von Botschaftern verschiedener Länder an, aber auch die einzige während der Zeit des Aufenthalts der polnischen Königin in Rom bestehende Opernbühne – das Teatro Capranica. Als eine nicht weniger wichtige Persönlichkeit als die erwähnten Aristokraten, wenn auch nicht mehr am Leben, erwies sich die Vorgängerin der Marie Casimire Sobieska in der Ewigen Stadt: Christina von Schweden, mit der man sie schon während ihres Aufenthalts in Rom wie auch in der späteren Literatur verglich.
Die Königin bot den Gästen im Palazzo Zuccari Opern, die damals als „Drammi per musica“ bezeichnet wurden, Kantaten und Instrumentalmusik. In der von ihr gegründeten Klosterkirche und in der polnischen Kirche S. Stanislao organisierte sie Aufführungen von Sakralmusik. Vor den Fenstern ihres Palasts erklangen dagegen häufig und aus verschiedenen Anlässen Serenaden. Aus der großen, um nicht zu sagen imposanten (für die damaligen Verhältnisse) Gruppe von Kompositionen, die auf Bestellung der Königin entstanden, sind bis auf den heutigen Tag die Libretti von 8 Drammi per musica erhalten geblieben. Dies sind [1]:
- Il figlio delle selve (17.01.1709)
- La Silvia (26.01.1710)
- Tolomeo et Alessandro ovvero la corona disprezzata (19.01.1711)
- L’Orlando overo La Gelosa Pazzia (?. 1711)
- Tetide in Sciro (10.01.1712)
- Ifigenia in Aulide (11.01.1713)
- Ifigenia in Tauri (15.02.1713)
- Amor d’un Ombra, e Gelosia d’un Aura (20.01.1714).
Leider sind komplette Partituren nur in zwei Fällen erhalten (Tolomeo et Alessandro, Tetide in Sciro), dazu kommen eine weitere Partitur, die ein Rifacimento der letzten bei der Königin aufgeführten Oper darstellt (Amor d’un’Ombra e Gelosia d’un’Aura), sowie einzelne Opernarien (aus Ifigenia in Aulide und Ifigenia in Tauri). Von den Gelegenheitswerken sind Libretti zu 6 Serenaden erhalten, für die die fragmentarisch erhaltene Partitur der 1. Serenade erhalten ist (Clori, e Fileno). Wir kennen auch das Libretto zu einem Oratorium (La Conversione di Clodoveo, Re di Francia).
Die dichterischen Texte zu den meisten der erwähnten Werke schrieben auf Bestellung der Königin ihr Librettist und Sekretär Carlo Sigismondo Capece, ein in den Kreisen der römischen Aristokratie geschätzter Literat, sowie Giacomo Buonaccorsi und Giovanni Domenico Pioli. Die Musik komponierte der junge Domenico Scarlatti, Maestro di cappella am Hofe der Königin seit 1709. Die erste Oper, die am Hofe der Marysieńka aufgeführt wurde, schrieb dagegen vermutlich dessen Vater, der in Italien und insbesondere in Rom hochgeschätzte Alessandro Scarlatti. Andere bekannte Komponisten am Hofe der Marie Casimire waren der Lautist Silvius Leopold Weiss, Quirino Colombani, Anastasio Lingua, Pietro Franchi und andere Künstler, die nur dem Vornamen nach bekannt sind und mit der Königin noch aus Polen mitgekommen waren. Auf der Grundlage einer höchst feierlichen Zeremonie in der Kirche S. Luigi dei Francesi aus Anlass der Verleihung des Ordens vom Heiligen Geist an die jungen Königssöhne Alexander und Konstantin durch Ludwig XIV. wissen wir, dass die Musik zu diesem Anlass von Arcangelo Corelli, dem „Orpheus seiner Zeit“, und Paolo Lorenzani komponiert wurde. Marie Casimire hatte sicherlich viele Gelegenheit, der Musik dieser Komponisten in Rom zu begegnen. Es lässt sich auch vermuten, dass sie selbst bei ihnen musikalische Kompositionen bestellte, wenngleich die erhaltenen Quellen dazu schweigen.
Für die szenische Gestaltung der im Palast der Königin aufgeführten Drammi per musica zeichnete der bedeutende Architekt Filippo Juvarra verantwortlich, der sich damals auf Opernbühnenbildern spezialisierte. Vermutlich schloss Marie Casimire schon 1710 mit dem Künstler einen Vertrag über die Ausführung einer Szenografie für die Opern ab, die für den Karneval im Jahr 1711 geplant waren (Tolomeo et Alessandro, L’Orlando). Diese stieß auf allgemeine Anerkennung, was die Königin und ihren Sohn Aleksander dazu bewog, den Kontrakt mit dem Szenografen zu verlängern (Tetide in Sciro, Ifigenia in Aulide, Ifigenia in Taurie). Zu vermuten ist, dass die Sobieskis noch 1714 bei der Aufführung von Amor d’un’Ombra e Gelosia d’un’Aura auf Elemente der Bühnengestaltung Juvarras zurückgriffen, als der Künstler schon längst nach Turin gezogen war.
Der Erfolg der Oper hängt – damals wie heute – nicht unwesentlich von den Sängern ab. Wir wissen, dass die Königin zahlreiche Anstrengungen unternommen hat, die besten Vokalisten zu gewinnen. Unter einigen noch heute bekannten Namen erfreuten sich des größten Ruhms und der höchsten Anerkennung Anna Maria Giusti, detta La Romanina, die unter anderem für ihre Rollen in den frühen venezianischen Opern Vivaldis bekannt geworden war, Maria Domenica Pini, detta Tilla, eine Virtuosin des Florentiner Hofes, die auch dem venezianischen Publikum bestens bekannt war, Caterina Lelli, detta Nina. Der Königin gefiel sehr auch die Stimme von Giovanna Albertini, detta La Reggiana, einer der bedeutendsten Sängerinnen der Zeit. Marysieńka wollte diese Sängerin unbedingt auf der Bühne ihres Theaters sehen. Es scheint allerdings, dass ihre Honorarvorstellungen wohl die finanziellen Möglichkeiten der Königin überstiegen. Marie Casimire beschäftigte auch Kastraten, von denen sich im damaligen Musikleben Roms Giuseppe Luparini-Beccari, kurz Giuseppe della Regina, und Pippo della Grance auszeichneten.
Ein solch exquisites Ensemble machte das Theater der Königin zu einem interessanten Punkt im Kulturleben Roms. Es wurde auch zu einer Herausforderung für die Ptrivatbühnen anderer Mäzene in Rom. Aus erhaltenen Aufzeichnungen geht hervor, dass die von Marie Casimire präsentierten Karnevalsopern die höchste Anerkennung des Publikums genossen. Auf diese Weise erreichte die Königin ihr Ziel – sie war in aller Munde, gerühmt als aktive und talentierte Mäzenin.
[1] In Klammern sind die Daten der Uraufführungen angegeben.